ALLES NUR AUS LIEBE
Missmutig
starrte Roran auf den flachen runden Stein in seiner
Hand. »Stenr rïsa«, knurrte er
leise.
Der Stein rührte sich nicht.
»Was tust du da, Hammerfaust?«, fragte Carn
und setzte sich neben ihn auf den Stamm.
Roran steckte den Stein rasch in seinen
Gürtel und nahm das Brot und den Käse, den Carn ihm gebracht hatte.
»Ach nichts. Ich bin bloß in Gedanken.«
Carn nickte. »Wie die meisten, bevor sie in
die Schlacht ziehen.«
Während er aß, ließ Roran den Blick über die
Männer schweifen, denen er zugeteilt worden war. Ihn
eingeschlossen, bestand der Trupp aus dreißig erfahrenen Kriegern.
Jeder von ihnen besaß einen Bogen und die meisten auch ein Schwert.
Nur wenige hatten sich entschlossen, mit einem Speer, einer Keule
oder einem Hammer zu kämpfen. Sieben oder acht der Männer waren so
alt wie er, die übrigen mehrere Jahre älter. Der Älteste war ihr
Hauptmann, Martland Rotbart, der frühere Graf von Thun, der schon
so viele Winter erlebt hatte, dass seinen berühmten feuerroten Bart
silbrige Haare durchzogen.
Zum Dienstantritt hatte Roran sich im Zelt
des Hauptmanns gemeldet. Der Graf war ein klein gewachsener Mann,
muskelbepackt vom jahrelangen Reiten und vielen Schwertkämpfen. Der
dichte gepflegte Bart, dem er seinen Namen verdankte, reichte ihm
fast bis zum Bauchnabel. Nach einer eingehenden Musterung hatte
Martland zur Begrüßung zu Roran gesagt: »Nasuada hat mir viel von
dir erzählt, Junge, und auch von meinen Männern habe ich zahllose
Geschichten und Gerüchte über dich gehört. Du weißt ja, wie das
ist. Zweifellos hast du bemerkenswerte Heldentaten vollbracht. Die
Ra’zac in ihrem Unterschlupf zu erledigen, war bestimmt eine
knifflige Angelegenheit. Natürlich hat dein Cousin dir dabei
geholfen, nicht?... Du magst es gewohnt sein, dass die Leute aus
deinem Dorf deinen Befehlen folgen, aber jetzt bist du ein Teil der
Varden, Junge. Genauer gesagt, du bist einer meiner Krieger. Wir
sind nicht deine Familie oder deine früheren Nachbarn. Unsere
Pflicht ist es, Nasuadas Befehle auszuführen, und das tun wir auch,
ganz gleich, was wir von der jeweiligen Order halten mögen. Solange
du unter mir dienst, tust du, was ich dir sage, wann ich es dir
sage und genau so, wie ich es dir sage. Ich schwöre bei den
Gebeinen meiner toten Mutter - möge sie in Frieden ruhen -, dass
ich dir sonst persönlich die Haut vom Rücken peitsche, egal mit wem
du verwandt bist. Verstanden?«
»Jawohl, Hauptmann!«
»Ausgezeichnet. Ein entschlossener Mann, der
sich anständig benimmt, etwas gesunden Menschenverstand zeigt und
lange genug am Leben bleibt, kann bei den Varden schnell
aufsteigen. Ob dir das gelingt, Roran, hängt einzig und allein
davon ab, ob ich dich für fähig halte, ein eigenes Kommando zu
übernehmen. Aber sei gewarnt, glaub ja nicht, dass Schmeicheleien
mich beeindrucken. Mich schert es nicht, ob du mich liebst oder
hasst. Für mich zählt nur, ob du auch tust, was man dir
befiehlt.«
»Verstanden, Hauptmann!«
»Ob du mich wirklich verstanden hast,
Hammerfaust, wird sich noch zeigen. Nun geh und melde dich bei
Ulhart, meiner rechten Hand.«
Roran schluckte den letzten Bissen Brot
hinunter und spülte mit einem kräftigen Schluck aus seinem
Weinschlauch nach. Er wünschte, es hätte etwas Warmes zum
Abendessen gegeben, aber sie waren tief im Feindesland und
Galbatorix’ Soldaten hätten ein Feuer bemerken können. Seufzend
streckte er die Beine aus. Seine Knie waren wund gescheuert, denn
die letzten drei Tage hatte er von morgens bis abends auf
Schneefeuer gesessen.
Irgendwo in seinem Hinterkopf spürte Roran
einen leichten, aber stetigen Druck, einen mentalen Reiz, der ihn
Tag und Nacht in dieselbe Richtung wies: in Richtung Katrina. Die
Ursache für dieses Gefühl war der Ehering, den Eragon ihm gegeben
hatte. Es war für Roran tröstlich zu wissen, dass er und Katrina
sich durch die Ringe überall in Alagaësia finden würden, selbst
wenn sie beide blind und taub wären.
Er hörte, wie Carn neben ihm ein paar Sätze
in der alten Sprache murmelte, und musste lächeln. Carn war ihr
Magier und sollte gewährleisten, dass ein feindlicher Zauberer den
Trupp nicht mit einem simplen Fingerschnippen auslöschen konnte.
Von einigen anderen Männern hatte Roran erfahren, dass Carn kein
sonderlich starker Magier war - er rang mit jedem einzelnen Zauber
-, aber dass er diese Schwäche durch besonders raffinierte
Zaubersprüche wettmachte und ebenso durch sein großes Talent, sich
in den Geist seiner Gegner einzuschleichen. Er hatte ein schmales
Gesicht mit müden Augen, war spindeldürr und hatte eine nervöse,
leicht erregbare Art. Roran hatte ihn sofort gemocht.
Ihnen gegenüber saßen zwei Männer vor ihrem
Zelt. Halmar erzählte Ferth: »...als die Soldaten ihn holen kamen,
versammelte er alle seine Leute in seinem Anwesen und zündete das
Öl an, das seine Bediensteten zuvor überall verschüttet hatten. Die
Soldaten tappten in die Falle, und hinterher sah es für die
Öffentlichkeit so aus, als wären sie alle miteinander bei
lebendigem Leib verbrannt. Unglaublich, oder? Fünfhundert Soldaten
auf einen Schlag getötet, ohne auch nur einmal das Schwert gezückt
zu haben!«
»Und wie ist er entkommen?«, fragte
Ferth.
»Rotbarts Großvater war ein ausgemachtes
Schlitzohr. Er hatte vom Haus einen Tunnel zum nahen Fluss graben
lassen. Durch den floh Rotbart mit seiner Familie und seinen
Leuten. Er führte sie nach Surda, wo König Larkin sie aufnahm. Es
hat ein paar Jahre gedauert, bis Galbatorix herausfand, dass sie
noch am Leben waren. Wir können uns glücklich schätzen, unter
Rotbart zu dienen, das steht fest. Er hat nur zwei Schlachten
verloren und das auch nur aufgrund von Magie.«
Halmar verstummte, als Ulhart vor die Reihe
der sechzehn Zelte trat. Der mürrisch dreinblickende Veteran baute
sich breitbeinig auf, unerschütterlich wie eine tief verwurzelte
Eiche, und musterte die Zelte prüfend, ob alle Krieger anwesend
waren. »Die Sonne ist untergegangen, legt euch schlafen!«, rief er.
»Zwei Stunden vor Tagesanbruch reiten wir los. Der Konvoi sollte
sieben Meilen nordwestlich von uns stehen. Wir überraschen die
Soldaten, während sie noch das Lager räumen, töten sie, setzen die
Ladung in Brand und verschwinden. Hammerfaust, du reitest mit mir.
Wenn du versagst, werde ich dich mit einem stumpfen Angelhaken
ausnehmen.« Die Männer lachten. »So, jetzt schlaft.«
Wind peitschte Roran ins Gesicht. Das Blut
rauschte in seinen Ohren und übertönte jedes andere Geräusch. Unter
ihm preschte Schneefeuer in wildem Galopp dahin. Roran nahm nichts
wahr außer den beiden Soldaten, die auf ihren braunen Stuten neben
dem vorletzten Wagen des Konvois herritten.
Den Hammer erhoben, stieß Roran seinen
Schlachtruf aus.
Die Soldaten schraken zusammen und griffen
hastig nach ihren Waffen und Schilden. Einer ließ den Speer fallen
und beugte sich hinunter, um ihn aufzuheben.
Roran riss an Schneefeuers Zügeln, um den
Hengst abzubremsen. Er stellte sich in den Steigbügeln auf, war im
nächsten Moment gleichauf mit dem ersten Soldaten und schlug ihm
gegen die Schulter, sodass das Kettenhemd zerriss. Der Mann schrie
auf, der Arm erschlaffte. Mit einem Rückhandschlag erledigte Roran
ihn.
Der zweite Soldat hatte seinen Speer wieder
und stieß damit nach ihm, zielte auf den Hals. Roran hob den
Rundschild und spürte die heftige Erschütterung, als der Speer das
Holz traf. Er presste Schneefeuer die Beine in die Flanken, der
Hengst bäumte sich auf und trat wiehernd mit seinen
eisenbeschlagenen Hufen in die Luft. Einer der Hufe traf den
Soldaten am Brustkorb und riss ihm das rote Wams auf. Als
Schneefeuer wieder auf die Vorderbeine kam, schwang Roran den
Hammer seitlich und zerschmetterte dem Mann den Kehlkopf.
Er ließ den am Boden zuckenden Soldaten
hinter sich und ritt auf den nächsten Wagen des Konvois zu, wo
Ulhart es mit drei Gegnern gleichzeitig aufnahm. Jedes Fuhrwerk
wurde von vier Ochsen gezogen, und als Schneefeuer an dem Gespann
vorbeipreschte, neben dessen Wagen Roran soeben gekämpft hatte,
warf der vorderste Ochse den Kopf herum und traf mit der Hornspitze
Rorans rechtes Wadenbein und den Knöchel. Roran stöhnte auf. Es
fühlte sich an, als würde man ihm ein glühendes Eisen ans Bein
drücken. Er blickte hinunter und sah, dass die Stiefellasche
herabhing, zusammen mit blutigen Hautfetzen und einem zerrissenen
Muskel.
Mit einem erneuten Schlachtruf ritt Roran
auf einen der Soldaten zu, gegen die Ulhart kämpfte, und holte ihn
mit einem einzigen mächtigen Hammerschlag vom Pferd. Sein Nebenmann
wich Rorans Angriff aus, riss das Pferd herum und ergriff die
Flucht.
»Hol ihn dir!«, rief Ulhart, doch Roran
hatte die Verfolgung schon aufgenommen.
Der flüchtende Soldat stieß seinem Pferd die
Sporen in den Leib, bis es blutete, aber trotz dieser verzweifelten
Grausamkeit konnte das Tier Schneefeuer nicht entwischen. Roran
beugte sich über den Hals des Hengstes, während dieser schnell wie
der Wind dahinflog. Als dem Soldaten klar wurde, dass er nicht
entkommen konnte, zügelte er sein Pferd, wirbelte herum und schlug
mit einem Säbel nach Roran. Der riss den Hammer hoch und konnte die
messerscharfe Klinge gerade noch abwehren. Er konterte
augenblicklich mit einem kreisenden Überkopfschlag, aber der Soldat
parierte ihn und hieb zweimal nach Rorans Armen und Beinen. Der
fluchte innerlich. Offensichtlich hatte sein Gegner mehr Erfahrung
im Schwertkampf als er. Wenn er diese Auseinandersetzung nicht in
den nächsten Sekunden gewann, würde der Soldat ihn umbringen.
Der Mann musste seinen Vorteil geahnt haben,
denn er verstärkte die Angriffe und zwang Schneefeuer
zurückzuweichen. Eigentlich hätte er Roran mindestens dreimal
treffen müssen, aber jedes Mal krümmte die Klinge sich im letzten
Moment und verfehlte ihn, abgelenkt von einer unsichtbaren Kraft.
Noch nie war Roran so dankbar für Eragons Schutzzauber
gewesen.
Weil er keinen anderen Ausweg sah, versuchte
er es mit dem Überraschungsmoment. Er reckte den Kopf vor und
brüllte: »Buh!«, als würde er jemanden in einem dunklen Korridor
erschrecken. Der Soldat zuckte zusammen. Roran beugte sich vor und
ließ den Hammer auf das Knie des Mannes herabsausen. Der erbleichte
vor Schmerz. Bevor er sich wieder verteidigen konnte, schlug Roran
ihm ins Kreuz, und als der Soldat aufschrie und sich krümmte,
beendete Roran sein Leiden mit einem wuchtigen Schlag auf den
Kopf.
Keuchend saß er einen Moment lang da, dann
nahm er die Zügel auf, trieb Schneefeuer an und ritt in leichtem
Galopp zum Konvoi zurück. Sein Blick schoss umher, angezogen von
jeder Bewegung, während er die Lage sondierte. Die meisten Soldaten
waren tot, ebenso die Wagenlenker. Ganz vorne standen sich Carn und
ein groß gewachsener Mann im langen Gewand gegenüber. Sie rührten
sich nicht von der Stelle, nur ein gelegentliches Zucken ihrer
Körper kündete vom unsichtbaren Kampf zwischen ihnen. Dann kippte
Carns Widersacher nach vorne um und blieb reglos liegen.
In der Mitte des Konvois hatten fünf
tollkühne Soldaten die Ochsengespanne dreier Wagen losgeschnitten
und die Fuhrwerke zu einem Dreieck zusammengeschoben, von wo aus
sie Martland Rotbart und zehn anderen Varden erfolgreich die Stirn
boten. Vier der Soldaten stießen ihre Langspeere zwischen den Wagen
hindurch, der fünfte schoss Pfeile auf die Rebellen, die gezwungen
waren, sich hinter einem der anderen Fuhrwerke zu verschanzen. Der
Bogenschütze hatte schon mehrere Varden verwundet; einige waren von
ihren Pferden gefallen, andere hatten sich lange genug im Sattel
halten können, um irgendwo in Deckung zu gehen.
Roran überlegte. Sie konnten es sich nicht
leisten, ewig auf einer der Hauptstraßen des Imperiums auszuharren,
um nach und nach die verschanzten Soldaten auszuheben. Die Zeit
arbeitete gegen sie.
Die Soldaten schauten allesamt gen Westen,
in die Richtung, aus der der Angriff erfolgt war. Außer Roran war
keiner der Varden auf die andere Seite des Konvois gelangt. Sie
ahnten also nicht, dass er sich in ihrem Rücken näherte.
Ihm kam eine Idee. Unter anderen Umständen
hätte er sie als lächerlich und unpraktisch verworfen, so aber
schien ihm der Plan die einzige Möglichkeit, die Belagerung ohne
weitere Verzögerung zu beenden. An die Gefahren dachte er dabei
nicht. In dem Moment, in dem die Kämpfe ausgebrochen waren, hatte
er jede Angst vor Tod oder Verletzung abgelegt.
Roran trieb Schneefeuer an, bis er in vollem
Galopp dahinjagte. Er legte die linke Hand vorne auf den Sattel,
zog die Stiefel fast vollständig aus den Steigbügeln und spannte
die Muskeln an. Als der Hengst nur noch fünfzig Fuß von dem
Wagendreieck entfernt war, drückte er sich in die Höhe und stellte
die Füße auf den Sattel, sodass er geduckt auf Schneefeuer stand.
Es bedurfte all seines Geschicks und voller Konzentration, um das
Gleichgewicht zu halten. Wie erwartet, wurde der Hengst langsamer
und versuchte auszuweichen, als er sich der Wagenburg
näherte.
Als Schneefeuer kurz vor dem Ziel scharf
abdrehte, ließ Roran die Zügel los, sprang vom Rücken des Pferdes
und hechtete über das nächststehende Fuhrwerk hinweg. Sein Magen
spielte verrückt. Er sah noch das überraschte Gesicht des
Bogenschützen, der sich in diesem Moment zu ihm umblickte, dann
krachte er auch schon gegen den Mann und stürzte mit ihm zu Boden.
Der Körper seines Widersachers fing seinen Aufprall ab. Er richtete
sich auf, hob seinen Schild und rammte dem Mann die eisenverstärkte
Kante ins Genick.
Die anderen vier Soldaten reagierten viel zu
langsam. Der Mann links von Roran beging den Fehler, seinen Speer
zwischen den Wagen herausziehen zu wollen, denn in seiner Hast
verklemmte sich die Waffe so, dass der Schaft splitterte. Roran
stürzte sich auf ihn. Der Soldat versuchte zurückzuweichen, aber
ein Wagen versperrte ihm den Weg. Mit einem aufwärts geschwungenen
Hammerschlag traf Roran den Mann unter dem Kinn.
Der zweite Soldat war klüger. Er ließ seinen
Speer los und packte das Schwert an seinem Gürtel, doch es gelang
ihm nur, die Klinge halb herauszuziehen, bevor Roran ihm den
Brustkorb zertrümmerte.
Nun aber waren die beiden verbliebenen
Soldaten bereit. Mit wutverzerrten Gesichtern, die blanken Klingen
erhoben, traten sie auf ihn zu. Roran versuchte, seitlich
auszuweichen, doch sein zerfetztes Bein versagte ihm den Dienst. Er
knickte weg und fiel aufs Knie. Der Soldat, der ihm am nächsten
stand, ließ die Schwertklinge auf ihn herabsausen. Mit seinem
Schild wehrte Roran den Hieb ab, dann reckte er sich vor und
zertrümmerte dem Soldaten mit dem Hammer den Fuß. Der Mann ging
fluchend zu Boden. Roran schlug ihm das Gesicht ein. Dann warf er
sich zur Seite, weil er wusste, dass der letzte Soldat direkt
hinter ihm sein musste.
Er lag auf dem Rücken und erstarrte.
Über ihm stand sein Widersacher und drückte
ihm die glänzende Klinge an die Kehle.
So endet es
also, dachte Roran.
Da schlang sich ein muskulöser Arm um den
Hals des Soldaten und riss ihn zurück. Der Mann stieß einen
erstickten Schrei aus, als eine Schwertspitze und eine Blutfontäne
aus seinem Brustkorb schossen. Der Soldat brach zusammen und statt
seiner stand plötzlich Martland Rotbart über Roran. Der Graf atmete
schwer, sein Bart und der ganze Oberkörper waren
blutbesudelt.
Martland rammte sein Schwert in den Boden,
stützte sich auf den Knauf und betrachtete das Gemetzel in der
Wagenburg. Er nickte anerkennend. »Du bist unser Mann,
Hammerfaust.«
Roran saß auf einem der Wagen und biss die
Zähne zusammen, während Carn ihm den Stiefel aufschnitt. Um sich
von dem brennenden Schmerz in seinem Bein abzulenken, starrte er zu
den Geiern am Himmel auf und versetzte sich in Gedanken ins
Palancar-Tal.
Er stöhnte, als Carn die Wunde berührte.
»Tut mir leid«, sagte der Magier. »Ich muss die Wunde
untersuchen.«
Roran antwortete nicht, hielt den Blick zum
Himmel gerichtet. Nach einer Weile murmelte Carn einige Worte in
der alten Sprache und Sekunden später verwandelte sich der Schmerz
in Rorans Bein in ein dumpfes Ziehen. Er blickte an sich hinunter
und sah, dass die Wunde verschwunden war.
Nachdem er Roran und zwei weitere Männer
geheilt hatte, war Carn zittrig und aschfahl im Gesicht. Erschöpft
ließ er sich gegen das Wagenrad sinken und schlang die Arme um den
Leib.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte
Roran.
Der Magier zuckte kaum merklich die Achseln.
»Ich muss mich nur kurz ausruhen. Der Ochse hat dir das Wadenbein
gebrochen. Den Knochen konnte ich heilen, aber nicht den
zerrissenen Muskel. Ich habe die Wundränder zusammengefügt, damit
du nicht mehr blutest und nicht zu große Schmerzen hast, aber du
darfst das Bein nicht zu sehr belasten, während der Muskel von
selbst verheilt. Es wird eine Weile dauern.«
»Wie lange?«
»Eine Woche, vielleicht zwei.«
Roran zog die Überreste des Stiefels an.
»Eragon hat verschiedene Zauber gewirkt, um mich vor Verletzungen
zu schützen. Die haben mir heute einige Male das Leben gerettet.
Aber warum haben sie das Ochsenhorn nicht abgelenkt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Carn seufzend. »Man
kann nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Deshalb ist
Magie ja so gefährlich. Wenn man nur eine einzige Facette einer
Beschwörung übersieht, könnte sie einen sogar schwächen oder noch
Schlimmeres anrichten. So etwas passiert selbst den besten Magiern.
Deinem Cousin muss irgendein geringfügiger Fehler unterlaufen sein
- ein falsch platziertes Wort oder ein missverständlich
formulierter Satz -, der es dem Ochsen erlaubte, dich zu
verletzen.«
Vorsichtig ließ Roran sich vom Wagen
rutschen und humpelte zur Spitze des Konvois, um sich ein Bild vom
Ausgang der Schlacht zu machen. Fünf Varden, einschließlich er
selbst, waren bei den Kämpfen verletzt worden, zwei weitere waren
gefallen: ein Mann, mit dem Roran kaum geredet hatte, und Ferth,
mit dem er bei mehreren Gelegenheiten gesprochen hatte. Von den
Soldaten und Wagenlenkern hatte kein Einziger überlebt.
Roran blieb bei den Männern stehen, die er
getötet hatte, und starrte auf die Leichname hinab. Sein Speichel
schmeckte bitter und ihm wurde schlecht. Jetzt habe ich wie viele Menschen
getötet?... Ich weiß es nicht
mehr. Er hatte im Schlachtgetümmel auf den Brennenden
Steppen aufgehört zu zählen, wie viele Gegner er erschlagen hatte.
Nun hatte er schon so vielen den Tod gebracht, dass er ihre Zahl
nicht mehr wusste. Das beunruhigte ihn.Muss
ich erst Heerscharen von Männern niedermetzeln, um
zurückzubekommen, was das Imperium mir geraubt hat? Der
nächste Gedanke verstörte ihn noch mehr. Und falls es mir gelingt, wie kann ich ins Palancar-Tal
zurückkehren und dort in Frieden leben, wenn meine Seele mit dem
Blut von Hunderten Toten befleckt ist?
Roran schloss die Augen, entspannte ganz
bewusst jeden Muskel in seinem Körper und versuchte, sich zu
beruhigen. Das alles tue ich nur aus
Liebe. Ich töte aus Liebe zu Katrina, zu Eragon und zu den
Bewohnern Carvahalls und auch, weil ich die Sache der Varden
befürworte und ich dieses unser Land so liebe. Aus Liebe bin ich
bereit, durch einen Ozean aus Blut zu waten, selbst wenn es mich
zerstört.
»Das war wirklich unglaublich, Hammerfaust«,
sagte Ulhart. Roran öffnete die Augen. Vor ihm stand der
grauhaarige Krieger mit Schneefeuers Zügel in der Hand. »Niemand
war bisher so verrückt, über eine Wagenburg zu hechten und gegen
fünf Gegner gleichzeitig zu kämpfen. Gute Arbeit! Aber gib auf dich
acht. Normalerweise überlebt man so viel Wagemut nicht lange. Sei
künftig etwas vorsichtiger, dir zuliebe!«
»Ich werd’s versuchen«, sagte Roran und ließ
sich von Ulhart Schneefeuers Zügel reichen.
Während Roran sich von Carn hatte behandeln
lassen, waren die unverletzt gebliebenen Varden von Wagen zu Wagen
gegangen, hatten die Ladung inspiziert und Martland Bericht
erstattet. Der schrieb auf, was sie gefunden hatten, damit Nasuada
die Informationen studieren und daraus vielleicht Rückschlüsse auf
Galbatorix’ Pläne ziehen konnte. Roran sah zu, wie die Männer die
letzten beiden Wagen durchsuchten, die Weizen und stapelweise
Uniformen geladen hatten. Danach schnitten die Männer den Ochsen
die Kehlen durch und tränkten die Straße mit ihrem Blut. Dass die
Tiere getötet wurden, störte Roran, aber er wusste, dass es wichtig
war, sie dem Imperium wegzunehmen, und er hätte selbst zum Messer
gegriffen, wenn man ihn dazu aufgefordert hätte. Sie hätten die
Ochsen zu den Varden gebracht, aber die Tiere waren zu langsam und
schwerfällig. Das galt allerdings nicht für die Pferde der
Soldaten, deshalb fingen sie so viele wie möglich ein und banden
sie an ihre eigenen.
Schließlich zog einer der Männer eine mit
Harz getränkte Fackel aus der Satteltasche und entzündete sie
mithilfe seines Feuersteins. Er ritt an dem Konvoi entlang und
hielt die Flamme an die Wagen, bis alle lichterloh brannten. Dann
warf er die Fackel auf die Ladefläche des letzten Fuhrwerks.
»Aufsitzen!«, rief Martland.
Rorans verletztes Bein pochte, als er sich
in den Sattel zog. Er gab Schneefeuer die Sporen und ritt zu Carn,
während die übrigen Männer auf ihren Pferden in einer Doppelreihe
hinter Martland Aufstellung nahmen. Die Tiere schnaubten und
scharrten mit den Hufen, denn das Feuer machte sie unruhig.
Martland ritt los und der Rest des Trupps
folgte ihm. Zurück blieb der brennende Wagenkonvoi auf der
verlassenen Straße wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung im Reich der
Finsternis.