ALLES NUR AUS LIEBE

Missmutig starrte Roran auf den flachen runden Stein in seiner Hand. »Stenr rïsa«, knurrte er leise.
Der Stein rührte sich nicht.
»Was tust du da, Hammerfaust?«, fragte Carn und setzte sich neben ihn auf den Stamm.
Roran steckte den Stein rasch in seinen Gürtel und nahm das Brot und den Käse, den Carn ihm gebracht hatte. »Ach nichts. Ich bin bloß in Gedanken.«
Carn nickte. »Wie die meisten, bevor sie in die Schlacht ziehen.«
Während er aß, ließ Roran den Blick über die Männer schweifen, denen er zugeteilt worden war. Ihn eingeschlossen, bestand der Trupp aus dreißig erfahrenen Kriegern. Jeder von ihnen besaß einen Bogen und die meisten auch ein Schwert. Nur wenige hatten sich entschlossen, mit einem Speer, einer Keule oder einem Hammer zu kämpfen. Sieben oder acht der Männer waren so alt wie er, die übrigen mehrere Jahre älter. Der Älteste war ihr Hauptmann, Martland Rotbart, der frühere Graf von Thun, der schon so viele Winter erlebt hatte, dass seinen berühmten feuerroten Bart silbrige Haare durchzogen.
Zum Dienstantritt hatte Roran sich im Zelt des Hauptmanns gemeldet. Der Graf war ein klein gewachsener Mann, muskelbepackt vom jahrelangen Reiten und vielen Schwertkämpfen. Der dichte gepflegte Bart, dem er seinen Namen verdankte, reichte ihm fast bis zum Bauchnabel. Nach einer eingehenden Musterung hatte Martland zur Begrüßung zu Roran gesagt: »Nasuada hat mir viel von dir erzählt, Junge, und auch von meinen Männern habe ich zahllose Geschichten und Gerüchte über dich gehört. Du weißt ja, wie das ist. Zweifellos hast du bemerkenswerte Heldentaten vollbracht. Die Ra’zac in ihrem Unterschlupf zu erledigen, war bestimmt eine knifflige Angelegenheit. Natürlich hat dein Cousin dir dabei geholfen, nicht?... Du magst es gewohnt sein, dass die Leute aus deinem Dorf deinen Befehlen folgen, aber jetzt bist du ein Teil der Varden, Junge. Genauer gesagt, du bist einer meiner Krieger. Wir sind nicht deine Familie oder deine früheren Nachbarn. Unsere Pflicht ist es, Nasuadas Befehle auszuführen, und das tun wir auch, ganz gleich, was wir von der jeweiligen Order halten mögen. Solange du unter mir dienst, tust du, was ich dir sage, wann ich es dir sage und genau so, wie ich es dir sage. Ich schwöre bei den Gebeinen meiner toten Mutter - möge sie in Frieden ruhen -, dass ich dir sonst persönlich die Haut vom Rücken peitsche, egal mit wem du verwandt bist. Verstanden?«
»Jawohl, Hauptmann!«
»Ausgezeichnet. Ein entschlossener Mann, der sich anständig benimmt, etwas gesunden Menschenverstand zeigt und lange genug am Leben bleibt, kann bei den Varden schnell aufsteigen. Ob dir das gelingt, Roran, hängt einzig und allein davon ab, ob ich dich für fähig halte, ein eigenes Kommando zu übernehmen. Aber sei gewarnt, glaub ja nicht, dass Schmeicheleien mich beeindrucken. Mich schert es nicht, ob du mich liebst oder hasst. Für mich zählt nur, ob du auch tust, was man dir befiehlt.«
»Verstanden, Hauptmann!«
»Ob du mich wirklich verstanden hast, Hammerfaust, wird sich noch zeigen. Nun geh und melde dich bei Ulhart, meiner rechten Hand.«
Roran schluckte den letzten Bissen Brot hinunter und spülte mit einem kräftigen Schluck aus seinem Weinschlauch nach. Er wünschte, es hätte etwas Warmes zum Abendessen gegeben, aber sie waren tief im Feindesland und Galbatorix’ Soldaten hätten ein Feuer bemerken können. Seufzend streckte er die Beine aus. Seine Knie waren wund gescheuert, denn die letzten drei Tage hatte er von morgens bis abends auf Schneefeuer gesessen.
Irgendwo in seinem Hinterkopf spürte Roran einen leichten, aber stetigen Druck, einen mentalen Reiz, der ihn Tag und Nacht in dieselbe Richtung wies: in Richtung Katrina. Die Ursache für dieses Gefühl war der Ehering, den Eragon ihm gegeben hatte. Es war für Roran tröstlich zu wissen, dass er und Katrina sich durch die Ringe überall in Alagaësia finden würden, selbst wenn sie beide blind und taub wären.
Er hörte, wie Carn neben ihm ein paar Sätze in der alten Sprache murmelte, und musste lächeln. Carn war ihr Magier und sollte gewährleisten, dass ein feindlicher Zauberer den Trupp nicht mit einem simplen Fingerschnippen auslöschen konnte. Von einigen anderen Männern hatte Roran erfahren, dass Carn kein sonderlich starker Magier war - er rang mit jedem einzelnen Zauber -, aber dass er diese Schwäche durch besonders raffinierte Zaubersprüche wettmachte und ebenso durch sein großes Talent, sich in den Geist seiner Gegner einzuschleichen. Er hatte ein schmales Gesicht mit müden Augen, war spindeldürr und hatte eine nervöse, leicht erregbare Art. Roran hatte ihn sofort gemocht.
Ihnen gegenüber saßen zwei Männer vor ihrem Zelt. Halmar erzählte Ferth: »...als die Soldaten ihn holen kamen, versammelte er alle seine Leute in seinem Anwesen und zündete das Öl an, das seine Bediensteten zuvor überall verschüttet hatten. Die Soldaten tappten in die Falle, und hinterher sah es für die Öffentlichkeit so aus, als wären sie alle miteinander bei lebendigem Leib verbrannt. Unglaublich, oder? Fünfhundert Soldaten auf einen Schlag getötet, ohne auch nur einmal das Schwert gezückt zu haben!«
»Und wie ist er entkommen?«, fragte Ferth.
»Rotbarts Großvater war ein ausgemachtes Schlitzohr. Er hatte vom Haus einen Tunnel zum nahen Fluss graben lassen. Durch den floh Rotbart mit seiner Familie und seinen Leuten. Er führte sie nach Surda, wo König Larkin sie aufnahm. Es hat ein paar Jahre gedauert, bis Galbatorix herausfand, dass sie noch am Leben waren. Wir können uns glücklich schätzen, unter Rotbart zu dienen, das steht fest. Er hat nur zwei Schlachten verloren und das auch nur aufgrund von Magie.«
Halmar verstummte, als Ulhart vor die Reihe der sechzehn Zelte trat. Der mürrisch dreinblickende Veteran baute sich breitbeinig auf, unerschütterlich wie eine tief verwurzelte Eiche, und musterte die Zelte prüfend, ob alle Krieger anwesend waren. »Die Sonne ist untergegangen, legt euch schlafen!«, rief er. »Zwei Stunden vor Tagesanbruch reiten wir los. Der Konvoi sollte sieben Meilen nordwestlich von uns stehen. Wir überraschen die Soldaten, während sie noch das Lager räumen, töten sie, setzen die Ladung in Brand und verschwinden. Hammerfaust, du reitest mit mir. Wenn du versagst, werde ich dich mit einem stumpfen Angelhaken ausnehmen.« Die Männer lachten. »So, jetzt schlaft.«
 
Wind peitschte Roran ins Gesicht. Das Blut rauschte in seinen Ohren und übertönte jedes andere Geräusch. Unter ihm preschte Schneefeuer in wildem Galopp dahin. Roran nahm nichts wahr außer den beiden Soldaten, die auf ihren braunen Stuten neben dem vorletzten Wagen des Konvois herritten.
Den Hammer erhoben, stieß Roran seinen Schlachtruf aus.
Die Soldaten schraken zusammen und griffen hastig nach ihren Waffen und Schilden. Einer ließ den Speer fallen und beugte sich hinunter, um ihn aufzuheben.
Roran riss an Schneefeuers Zügeln, um den Hengst abzubremsen. Er stellte sich in den Steigbügeln auf, war im nächsten Moment gleichauf mit dem ersten Soldaten und schlug ihm gegen die Schulter, sodass das Kettenhemd zerriss. Der Mann schrie auf, der Arm erschlaffte. Mit einem Rückhandschlag erledigte Roran ihn.
Der zweite Soldat hatte seinen Speer wieder und stieß damit nach ihm, zielte auf den Hals. Roran hob den Rundschild und spürte die heftige Erschütterung, als der Speer das Holz traf. Er presste Schneefeuer die Beine in die Flanken, der Hengst bäumte sich auf und trat wiehernd mit seinen eisenbeschlagenen Hufen in die Luft. Einer der Hufe traf den Soldaten am Brustkorb und riss ihm das rote Wams auf. Als Schneefeuer wieder auf die Vorderbeine kam, schwang Roran den Hammer seitlich und zerschmetterte dem Mann den Kehlkopf.
Er ließ den am Boden zuckenden Soldaten hinter sich und ritt auf den nächsten Wagen des Konvois zu, wo Ulhart es mit drei Gegnern gleichzeitig aufnahm. Jedes Fuhrwerk wurde von vier Ochsen gezogen, und als Schneefeuer an dem Gespann vorbeipreschte, neben dessen Wagen Roran soeben gekämpft hatte, warf der vorderste Ochse den Kopf herum und traf mit der Hornspitze Rorans rechtes Wadenbein und den Knöchel. Roran stöhnte auf. Es fühlte sich an, als würde man ihm ein glühendes Eisen ans Bein drücken. Er blickte hinunter und sah, dass die Stiefellasche herabhing, zusammen mit blutigen Hautfetzen und einem zerrissenen Muskel.
Mit einem erneuten Schlachtruf ritt Roran auf einen der Soldaten zu, gegen die Ulhart kämpfte, und holte ihn mit einem einzigen mächtigen Hammerschlag vom Pferd. Sein Nebenmann wich Rorans Angriff aus, riss das Pferd herum und ergriff die Flucht.
»Hol ihn dir!«, rief Ulhart, doch Roran hatte die Verfolgung schon aufgenommen.
Der flüchtende Soldat stieß seinem Pferd die Sporen in den Leib, bis es blutete, aber trotz dieser verzweifelten Grausamkeit konnte das Tier Schneefeuer nicht entwischen. Roran beugte sich über den Hals des Hengstes, während dieser schnell wie der Wind dahinflog. Als dem Soldaten klar wurde, dass er nicht entkommen konnte, zügelte er sein Pferd, wirbelte herum und schlug mit einem Säbel nach Roran. Der riss den Hammer hoch und konnte die messerscharfe Klinge gerade noch abwehren. Er konterte augenblicklich mit einem kreisenden Überkopfschlag, aber der Soldat parierte ihn und hieb zweimal nach Rorans Armen und Beinen. Der fluchte innerlich. Offensichtlich hatte sein Gegner mehr Erfahrung im Schwertkampf als er. Wenn er diese Auseinandersetzung nicht in den nächsten Sekunden gewann, würde der Soldat ihn umbringen.
Der Mann musste seinen Vorteil geahnt haben, denn er verstärkte die Angriffe und zwang Schneefeuer zurückzuweichen. Eigentlich hätte er Roran mindestens dreimal treffen müssen, aber jedes Mal krümmte die Klinge sich im letzten Moment und verfehlte ihn, abgelenkt von einer unsichtbaren Kraft. Noch nie war Roran so dankbar für Eragons Schutzzauber gewesen.
Weil er keinen anderen Ausweg sah, versuchte er es mit dem Überraschungsmoment. Er reckte den Kopf vor und brüllte: »Buh!«, als würde er jemanden in einem dunklen Korridor erschrecken. Der Soldat zuckte zusammen. Roran beugte sich vor und ließ den Hammer auf das Knie des Mannes herabsausen. Der erbleichte vor Schmerz. Bevor er sich wieder verteidigen konnte, schlug Roran ihm ins Kreuz, und als der Soldat aufschrie und sich krümmte, beendete Roran sein Leiden mit einem wuchtigen Schlag auf den Kopf.
Keuchend saß er einen Moment lang da, dann nahm er die Zügel auf, trieb Schneefeuer an und ritt in leichtem Galopp zum Konvoi zurück. Sein Blick schoss umher, angezogen von jeder Bewegung, während er die Lage sondierte. Die meisten Soldaten waren tot, ebenso die Wagenlenker. Ganz vorne standen sich Carn und ein groß gewachsener Mann im langen Gewand gegenüber. Sie rührten sich nicht von der Stelle, nur ein gelegentliches Zucken ihrer Körper kündete vom unsichtbaren Kampf zwischen ihnen. Dann kippte Carns Widersacher nach vorne um und blieb reglos liegen.
In der Mitte des Konvois hatten fünf tollkühne Soldaten die Ochsengespanne dreier Wagen losgeschnitten und die Fuhrwerke zu einem Dreieck zusammengeschoben, von wo aus sie Martland Rotbart und zehn anderen Varden erfolgreich die Stirn boten. Vier der Soldaten stießen ihre Langspeere zwischen den Wagen hindurch, der fünfte schoss Pfeile auf die Rebellen, die gezwungen waren, sich hinter einem der anderen Fuhrwerke zu verschanzen. Der Bogenschütze hatte schon mehrere Varden verwundet; einige waren von ihren Pferden gefallen, andere hatten sich lange genug im Sattel halten können, um irgendwo in Deckung zu gehen.
Roran überlegte. Sie konnten es sich nicht leisten, ewig auf einer der Hauptstraßen des Imperiums auszuharren, um nach und nach die verschanzten Soldaten auszuheben. Die Zeit arbeitete gegen sie.
Die Soldaten schauten allesamt gen Westen, in die Richtung, aus der der Angriff erfolgt war. Außer Roran war keiner der Varden auf die andere Seite des Konvois gelangt. Sie ahnten also nicht, dass er sich in ihrem Rücken näherte.
Ihm kam eine Idee. Unter anderen Umständen hätte er sie als lächerlich und unpraktisch verworfen, so aber schien ihm der Plan die einzige Möglichkeit, die Belagerung ohne weitere Verzögerung zu beenden. An die Gefahren dachte er dabei nicht. In dem Moment, in dem die Kämpfe ausgebrochen waren, hatte er jede Angst vor Tod oder Verletzung abgelegt.
Roran trieb Schneefeuer an, bis er in vollem Galopp dahinjagte. Er legte die linke Hand vorne auf den Sattel, zog die Stiefel fast vollständig aus den Steigbügeln und spannte die Muskeln an. Als der Hengst nur noch fünfzig Fuß von dem Wagendreieck entfernt war, drückte er sich in die Höhe und stellte die Füße auf den Sattel, sodass er geduckt auf Schneefeuer stand. Es bedurfte all seines Geschicks und voller Konzentration, um das Gleichgewicht zu halten. Wie erwartet, wurde der Hengst langsamer und versuchte auszuweichen, als er sich der Wagenburg näherte.
Als Schneefeuer kurz vor dem Ziel scharf abdrehte, ließ Roran die Zügel los, sprang vom Rücken des Pferdes und hechtete über das nächststehende Fuhrwerk hinweg. Sein Magen spielte verrückt. Er sah noch das überraschte Gesicht des Bogenschützen, der sich in diesem Moment zu ihm umblickte, dann krachte er auch schon gegen den Mann und stürzte mit ihm zu Boden. Der Körper seines Widersachers fing seinen Aufprall ab. Er richtete sich auf, hob seinen Schild und rammte dem Mann die eisenverstärkte Kante ins Genick.
Die anderen vier Soldaten reagierten viel zu langsam. Der Mann links von Roran beging den Fehler, seinen Speer zwischen den Wagen herausziehen zu wollen, denn in seiner Hast verklemmte sich die Waffe so, dass der Schaft splitterte. Roran stürzte sich auf ihn. Der Soldat versuchte zurückzuweichen, aber ein Wagen versperrte ihm den Weg. Mit einem aufwärts geschwungenen Hammerschlag traf Roran den Mann unter dem Kinn.
Der zweite Soldat war klüger. Er ließ seinen Speer los und packte das Schwert an seinem Gürtel, doch es gelang ihm nur, die Klinge halb herauszuziehen, bevor Roran ihm den Brustkorb zertrümmerte.
Nun aber waren die beiden verbliebenen Soldaten bereit. Mit wutverzerrten Gesichtern, die blanken Klingen erhoben, traten sie auf ihn zu. Roran versuchte, seitlich auszuweichen, doch sein zerfetztes Bein versagte ihm den Dienst. Er knickte weg und fiel aufs Knie. Der Soldat, der ihm am nächsten stand, ließ die Schwertklinge auf ihn herabsausen. Mit seinem Schild wehrte Roran den Hieb ab, dann reckte er sich vor und zertrümmerte dem Soldaten mit dem Hammer den Fuß. Der Mann ging fluchend zu Boden. Roran schlug ihm das Gesicht ein. Dann warf er sich zur Seite, weil er wusste, dass der letzte Soldat direkt hinter ihm sein musste.
Er lag auf dem Rücken und erstarrte.
Über ihm stand sein Widersacher und drückte ihm die glänzende Klinge an die Kehle.
So endet es also, dachte Roran.
Da schlang sich ein muskulöser Arm um den Hals des Soldaten und riss ihn zurück. Der Mann stieß einen erstickten Schrei aus, als eine Schwertspitze und eine Blutfontäne aus seinem Brustkorb schossen. Der Soldat brach zusammen und statt seiner stand plötzlich Martland Rotbart über Roran. Der Graf atmete schwer, sein Bart und der ganze Oberkörper waren blutbesudelt.
Martland rammte sein Schwert in den Boden, stützte sich auf den Knauf und betrachtete das Gemetzel in der Wagenburg. Er nickte anerkennend. »Du bist unser Mann, Hammerfaust.«
 
Roran saß auf einem der Wagen und biss die Zähne zusammen, während Carn ihm den Stiefel aufschnitt. Um sich von dem brennenden Schmerz in seinem Bein abzulenken, starrte er zu den Geiern am Himmel auf und versetzte sich in Gedanken ins Palancar-Tal.
Er stöhnte, als Carn die Wunde berührte. »Tut mir leid«, sagte der Magier. »Ich muss die Wunde untersuchen.«
Roran antwortete nicht, hielt den Blick zum Himmel gerichtet. Nach einer Weile murmelte Carn einige Worte in der alten Sprache und Sekunden später verwandelte sich der Schmerz in Rorans Bein in ein dumpfes Ziehen. Er blickte an sich hinunter und sah, dass die Wunde verschwunden war.
Nachdem er Roran und zwei weitere Männer geheilt hatte, war Carn zittrig und aschfahl im Gesicht. Erschöpft ließ er sich gegen das Wagenrad sinken und schlang die Arme um den Leib.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Roran.
Der Magier zuckte kaum merklich die Achseln. »Ich muss mich nur kurz ausruhen. Der Ochse hat dir das Wadenbein gebrochen. Den Knochen konnte ich heilen, aber nicht den zerrissenen Muskel. Ich habe die Wundränder zusammengefügt, damit du nicht mehr blutest und nicht zu große Schmerzen hast, aber du darfst das Bein nicht zu sehr belasten, während der Muskel von selbst verheilt. Es wird eine Weile dauern.«
»Wie lange?«
»Eine Woche, vielleicht zwei.«
Roran zog die Überreste des Stiefels an. »Eragon hat verschiedene Zauber gewirkt, um mich vor Verletzungen zu schützen. Die haben mir heute einige Male das Leben gerettet. Aber warum haben sie das Ochsenhorn nicht abgelenkt?«
»Ich weiß nicht«, sagte Carn seufzend. »Man kann nicht auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Deshalb ist Magie ja so gefährlich. Wenn man nur eine einzige Facette einer Beschwörung übersieht, könnte sie einen sogar schwächen oder noch Schlimmeres anrichten. So etwas passiert selbst den besten Magiern. Deinem Cousin muss irgendein geringfügiger Fehler unterlaufen sein - ein falsch platziertes Wort oder ein missverständlich formulierter Satz -, der es dem Ochsen erlaubte, dich zu verletzen.«
Vorsichtig ließ Roran sich vom Wagen rutschen und humpelte zur Spitze des Konvois, um sich ein Bild vom Ausgang der Schlacht zu machen. Fünf Varden, einschließlich er selbst, waren bei den Kämpfen verletzt worden, zwei weitere waren gefallen: ein Mann, mit dem Roran kaum geredet hatte, und Ferth, mit dem er bei mehreren Gelegenheiten gesprochen hatte. Von den Soldaten und Wagenlenkern hatte kein Einziger überlebt.
Roran blieb bei den Männern stehen, die er getötet hatte, und starrte auf die Leichname hinab. Sein Speichel schmeckte bitter und ihm wurde schlecht. Jetzt habe ich wie viele Menschen getötet?... Ich weiß es nicht mehr. Er hatte im Schlachtgetümmel auf den Brennenden Steppen aufgehört zu zählen, wie viele Gegner er erschlagen hatte. Nun hatte er schon so vielen den Tod gebracht, dass er ihre Zahl nicht mehr wusste. Das beunruhigte ihn.Muss ich erst Heerscharen von Männern niedermetzeln, um zurückzubekommen, was das Imperium mir geraubt hat? Der nächste Gedanke verstörte ihn noch mehr. Und falls es mir gelingt, wie kann ich ins Palancar-Tal zurückkehren und dort in Frieden leben, wenn meine Seele mit dem Blut von Hunderten Toten befleckt ist?
Roran schloss die Augen, entspannte ganz bewusst jeden Muskel in seinem Körper und versuchte, sich zu beruhigen. Das alles tue ich nur aus Liebe. Ich töte aus Liebe zu Katrina, zu Eragon und zu den Bewohnern Carvahalls und auch, weil ich die Sache der Varden befürworte und ich dieses unser Land so liebe. Aus Liebe bin ich bereit, durch einen Ozean aus Blut zu waten, selbst wenn es mich zerstört.
»Das war wirklich unglaublich, Hammerfaust«, sagte Ulhart. Roran öffnete die Augen. Vor ihm stand der grauhaarige Krieger mit Schneefeuers Zügel in der Hand. »Niemand war bisher so verrückt, über eine Wagenburg zu hechten und gegen fünf Gegner gleichzeitig zu kämpfen. Gute Arbeit! Aber gib auf dich acht. Normalerweise überlebt man so viel Wagemut nicht lange. Sei künftig etwas vorsichtiger, dir zuliebe!«
»Ich werd’s versuchen«, sagte Roran und ließ sich von Ulhart Schneefeuers Zügel reichen.
Während Roran sich von Carn hatte behandeln lassen, waren die unverletzt gebliebenen Varden von Wagen zu Wagen gegangen, hatten die Ladung inspiziert und Martland Bericht erstattet. Der schrieb auf, was sie gefunden hatten, damit Nasuada die Informationen studieren und daraus vielleicht Rückschlüsse auf Galbatorix’ Pläne ziehen konnte. Roran sah zu, wie die Männer die letzten beiden Wagen durchsuchten, die Weizen und stapelweise Uniformen geladen hatten. Danach schnitten die Männer den Ochsen die Kehlen durch und tränkten die Straße mit ihrem Blut. Dass die Tiere getötet wurden, störte Roran, aber er wusste, dass es wichtig war, sie dem Imperium wegzunehmen, und er hätte selbst zum Messer gegriffen, wenn man ihn dazu aufgefordert hätte. Sie hätten die Ochsen zu den Varden gebracht, aber die Tiere waren zu langsam und schwerfällig. Das galt allerdings nicht für die Pferde der Soldaten, deshalb fingen sie so viele wie möglich ein und banden sie an ihre eigenen.
Schließlich zog einer der Männer eine mit Harz getränkte Fackel aus der Satteltasche und entzündete sie mithilfe seines Feuersteins. Er ritt an dem Konvoi entlang und hielt die Flamme an die Wagen, bis alle lichterloh brannten. Dann warf er die Fackel auf die Ladefläche des letzten Fuhrwerks.
»Aufsitzen!«, rief Martland.
Rorans verletztes Bein pochte, als er sich in den Sattel zog. Er gab Schneefeuer die Sporen und ritt zu Carn, während die übrigen Männer auf ihren Pferden in einer Doppelreihe hinter Martland Aufstellung nahmen. Die Tiere schnaubten und scharrten mit den Hufen, denn das Feuer machte sie unruhig.
Martland ritt los und der Rest des Trupps folgte ihm. Zurück blieb der brennende Wagenkonvoi auf der verlassenen Straße wie ein Leuchtfeuer der Hoffnung im Reich der Finsternis.

 

 

Die Weisheit des Feuers
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